Splitter

Kurt Wolff

Über das Verhältnis von Leben und Werk bei Carl Sternheim:

"Die herrliche, unfreiwillige und absurde Komik Carl Sternheims ist vor allem darin begründet, daß er in seiner Prosa wie in den Komödien aus dem bürgerlichen Heldenleben einen radikalen Feldzug gegen das Wilhelminische Bürgertum mitleidslos und mit ätzendem Witz führte, in seiner eigenen Person und Lebenshaltung aber den bürgerlichen Parvenu der Nach-Gründerzeit in seltener Reinkultur verkörperte. ...

Übrigens: In der Unterhaltung sprach Sternheim ein völlig normales Deutsch, das durch nichts die Sprachmanierismen des Schriftstellers vermuten ließ..."

Aus: Kurt Wolff. Autoren/ Bücher/ Abenteuer. Betrachtungen und Erinnerungen eines Verlegers. 1965. Neu veröffentlicht als Wagenbach-Taschenbuch Nr. 488, 2004, S. 70, 75.

Ernst Stadler

Über den Zyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben":

"Ihre Summe ergibt, von einem kühlen und leidenschaftlichen Geist umrissen, das Gesicht dieser Zeit. Das Chaotische unserer Epoche, Zusammenstürzen noch eben gültiger Überlieferungen, Anarchismus aller Werte, mühselige Behauptung eines nicht mehr Geglaubten durch Wort und Geste, die zur leblosen Form entarten, weil keine Realität hinter ihnen steht -- all das Ziellose, Ungeordnete, durch keine Gemeinsamkeit Geregelte, das deutsche Gegenwart heißt, ist hier von starken, wissenden Händen geformt."

Aus: Ernst Stadler, Dichtungen, Eingeleitet, textkritisch durchgesehen und erläutert von Karl Ludwig Schneider, Bd. II, Hamburg 1954, S. 31 f.. Zitiert nach: Manfred Linke, Sternheim, 1979, S. 82.

Franz Blei

"DAS STERNHEIM. Dieses Tieres Hartnäckigkeit, mit der es in norddeutschen großen Städten lebt, führte nicht gerade zu seiner Domestizierung, aber zu seiner Duldung, insoweit jenen Großstädtern erträglich gemacht, als das Sternheim durchaus und gerne deren Neigungen teilt, deren Gewohnheiten mitmacht und sich eigentlich mehr durch seine Absonderungen von dem Berliner unterscheidet. Diesen mischt das schadenfrohe Tier einen ätzenden Geruch bei, der die Hausgenossen etwas ärgert. Man nimmt an, daß das sonst wenig bemerkliche Sternheim, welches ein sehr eitles Tier ist, sich durch diese Beimengung bemerkbar zu machen sucht. Es ist von der Art, daß es, erreichte es damit seinen Zweck, bemerkt zu werden, auch angenehmen Duft beimengte, wenn anders dies nur aus der bestimmten Natur seiner Verdauungsorgane und der von diesen bedingten Nahrung, welche allerlei Abfall oder sonst Liegengelassenes ist, möglich wäre. Auch verlangt der scharfsäuerliche Geruch seiner berlinerischen Hausgenossen einen ähnlichen, weil ein angenehmer nicht gegen den scharfen aufkäme. Das Sternheim ist, wenn solcher Anthropmorphism erlaubt, von einem geradezu menschlichen Geltungstrieb besessen, worauf sich auch sein besonderer Mimetismus zurückführen läßt. Dieser Mimetismus gilt, wie man annimmt, als ein Selbstschutz der Tiere, und er äußert sich in der Fähigkeit, Aussehen und Farbe der Unterlage anzunehmen, auf welcher das Tier lebt. Das zu seinem Ärger gar nicht auffallende, weil kleine und graue Sternheim mimetiert nun Auffallen. Es wechselt grau in rot, wenn man es auf Grau setzt, wird blau auf Gelb usw. Das Tier gefährdet sich übrigens nicht durch dieses Auffallen. Mit dem Unangenehmen seiner Absonderung versucht es durch das Ungewöhnliche, wie es absondert, auszusöhnen, was ihm manchmal aber so mißlingt, daß es schon nicht mehr schön ist."

Aus: Franz Blei, Das große Bestiarium, Frankfurt, it 1982 (Text nach der 5. Auflage Berlin 1924).